Im Stillen klagte ich die Welt an: Als "Pflegekind" im Emmental
Inhalt:
«Im Sommer 1934 werden zwei Mädchen aus der Stadt Bern auf einen abgelegenen Bauernhof in Pflege gegeben. Auf dem Hof herrscht ein harsches Regiment, die beiden werden als Gratismägde ausgenutzt und wegen Kleinigkeiten verprügelt, der Bauer stellt ihnen nach. Dann kommen die Missstände aus, die Kinder werden umplatziert. Aber wieder verrichten sie harte Arbeit, wieder werden sie geschlagen. Als der Alptraum nach vier Jahren ein Ende hat, sind die Elf- und Zwölfjährige für ihr Leben geprägt: vom Gefühl, nichts wert zu sein.»
Meine Meinung:
Verdingkinder sind ein dunkles Geheimnis der Schweizer Geschichte. Ich selbst wusste bis vor kurzem nicht viel darüber. Ich arbeite in der Pflege. Als ich dazumal 2003, vor über 20 Jahren, eines meiner ersten Praktika in einem Wohn- oder Alter/Pflegeheim absolvierte, hatten wir einen Heimbewohner. Dieser war ein Verdingkind. Ein Knecht. Mir blieb in Erinnerung, wie schön er die Zeit im Pflegeheim empfand. Regelmässig zu Essen, ein eigenes Zimmer oder wöchentlich einmal baden zu dürfen. Dinge, die für ihn früher undenkbar gewesen waren. Und er wirkte so zufrieden, ab den «normalsten Dingen der Welt».
In einem späteren Pflegeheim hatten wir ein Ferienbett. In diesem war eine Bewohnerin, die ein Buch über ihre Kindheit schrieb. Das Buch wurde veröffentlicht und die Bewohnerin trat auch in den Medien auf. Der Schweizer Free-TV Sender SF1 strahlte beim «Aeschbacher» am 31.03.2005 eine Sendung aus, in welcher die Heimbewohnerin und natürlich auch Autorin des Buches, Dora Stettler ist ihr Name, für ca. 15 Minuten auftrat. Ihr Auftritt wird wie folgt beschrieben: «Dora Stettler ging als Verdingkind durch die Hölle und hat die Welt im Stillen angeklagt. Bis zu ihrer Pensionierung hat sie mit niemandem darüber gesprochen. Erst jetzt konnte Dora Stettler das Schweigen brechen und mit ihrem Buch eines der dunkelsten Kapitel der Schweizer Geschichte thematisieren.».
Dazumal hat sie, wenn ich nicht irre, auch ihr Buch promotet. Nun bekam ich das Buch von Dora Stettler geliehen. Es macht bei uns im Pflegeheim die Runde. Vor mir hatte es der Heimarzt. Mit nur 174 Seiten (darin sind auch ein Nachwort und schweizerdeutsche Ausdrücke erklärt) ist das Buch, welches sie als «Befreiung» sieht, schnell gelesen. Da ihre Geschichte in Bern spielt, dem Kanton in welchem auch ich geboren und aufgewachsen bin sowie lebe und ihr Leidesweg auch an Orten stattfindet, welche ich kenne, ist es ein informatives aber auch hartes Werk. Ich hatte es schnell verschlungen und im Gegensatz zu jedem Horrorfilm sind die Inhalte um Missbrauch, Erniedrigung und Misshandlung, schwer zu verdauen. Ich denke, viele Menschen, vor allem im Ausland, würden nicht meinen, dass sich in der reichen Schweiz ein solches Kapitel zugetragen hätte.
Nebst Dora Stettler gibt es heute weitere Romane von Betroffenen zu dem Thema und auch die Politik wurde aktiv. Gesetze wurden angepasst und Opfer haben ein Recht auf eine Zahlung von 25'000 CHF. Bis ins Jahr 2019 waren bereits 9000 Gesuche um solche Zahlungen fällig. Die Dunkelziffer dürfte höher sein. Obwohl Dora Stettler früher keine Autorin war (sie war 36 Jahre lang technische Zeichnerin), sind die Texte wahnsinnig glaubhaft geschrieben. Als Leser konnte ich mich sofort vorstellen, was sie beschrieb. Eine Spannung war trotz dem harten Inhalt immer vorhanden. Es hat mich gefesselt. Auch sensible Tierliebhaber bekommen einiges zu schlucken (Verzehr von Katzen etc.). Überraschend und interessant war die Tatsache, dass Dora Stettlers Vater schlussendlich, und wir sprechen hier von den 30ern oder 40ern, das Sorgerecht für seine Kinder bekam! Das hätte ich also nicht erwartet. Damit waren die Kinder aus dem Alptraum befreit. Die letzten Zeilen waren rührend! Das Buch wird durch 2-3 Fotos, die Dora Stettler und ihre Geschwister zeigen, abgerundet.
Fazit: Geschichtlich hochinteressante Lektüre! Danke Dora Stettler!
Infos:
In Deutschland erschienen: Unbekannt
Sprache: Deutsch
Verlag: Limmat Verlag Zürich
Anzahl Seiten: 174
Roman/Sachbuch: Biographie
Art: Gebunden
Autor: Dora Stettler, mit einem Nachwort von Jacqueline Fehr
Erschienen: 3. Auflage 2009 (2004)